Forschung am lebenden Gehirn

Experimente am lebenden Gehirn sind unersetzlich, da kognitive Funktionen die Leistung des gesamten Gehirns erfordern und nicht nur die einiger weniger Nervenzellen. Die Beschränkung auf Computermodelle kann nicht zum Ziel führen, weil Modelle immer nur so gut sind, wie das Wissen, das in sie hinein gesteckt wurde. 

Das Gehirn ist unglaublich komplex. Es besteht aus 80 Milliarden Nervenzellen, von denen jede über Zellfortsätze mit etwa 10.000 anderen Nervenzellen verbunden ist. In jedem Kubikmillimeter Hirnrinde findet man mehrere Kilometer dieser Verbindungsfortsätze. Auf diese Weise entsteht ein riesiges Netzwerk, zu dem neben den Nervenzellen noch verschiedene andere Zellen gehören, die nicht direkt an der Informationsverarbeitung beteiligt sind. Zu ihnen gehören Stützzellen, Abwehrzellen und Zellen, die neben den Blutgefäßen, für die Versorgung der Nervenzellen zuständig sind.

Dieses weit verschaltete neuronale Netzwerk ermöglicht uns Menschen unsere erstaunlichen kognitiven Fähigkeiten - und stellt für die Wissenschaft eine große Herausforderung dar. Selbst einfache Prozesse wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis sind so kompliziert, dass wir trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung noch nicht genau entschlüsselt haben, wie sie wirklich funktionieren. Hätten wir diese Hirnfunktionen verstanden, so wären wir in der Lage einen Roboter zu bauen, der sich bei bestimmten Reizen ähnlich wie ein Mensch verhält. Zwar können wir heutzutage Computer so programmieren, dass sie jedem menschlichen Gehirn beim Schachspiel weit überlegen sind - es fällt Computern aber nach wie vor schwer, eine umgestoßene Schachfigur auch als solche zu erkennen.

Trotz der Komplexität der Gehirnstruktur und -abläufe gibt es jedoch auch grundlegende Prinzipien und Regelmäßigkeiten. Diese geben Hoffnung, dass wir eines Tages die komplexen kognitiven Prozesse verstehen werden. Für die Erforschung der Hirnfunktionen ist ein zweifacher Ansatz nötig. Einerseits müssen wir niedrig entwickelte Gehirne untersuchen, um so einen systematischen Zugang zu den allgemeinen Prinzipien zu bekommen. Andererseits muss Forschung aber auch an komplexeren Systemen geschehen, da sich im Laufe der Evolution neuere Funktionsprinzipien entwickelt haben und nur diese über höhere kognitive Leistungen verfügen.

Untersuchungen von Hirnfunktionen können nur dann zur Klärung der Mechanismen beitragen, wenn möglichst genaue Rückschlüsse auf die beteiligten neuronalen Strukturen gemacht werden können. Um die Aktivität einzelner Gehirnareale zu untersuchen, gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten.

Zum einen kann man mittels Mikroelektroden die Aktivität einzelner Nervenzellen und Netzwerke messen. Dabei werden eine oder mehrere haarfeine (~80µm) Elektroden in das Gehirn eingeführt. Dies ist eine invasiv dafür aber direkte Untersuchungsmethode.  Sie verursacht allerdings keine Schmerzen, da das Gehirn selbst über keine Schmerzrezeptoren verfügt und bei manchen Patienten sogar zur Diagnose und Therapie verwendet wird. Die direkte Messung der Aktivität einzelner Nervenzellen ist wichtig, um beispielsweise Messergebnisse aus nicht-invasiven Verfahren, wie die der funktionellen MRT, interpretieren zu können.

Zum anderen ermöglichen bildgebende Verfahren, wie beispielsweise die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), einen gleichzeitigen Blick auf in das gesamte Gehirn. Diese Methode ist 'nicht-invasiv', gibt aber auch nur einen indirekten Einblick in die neuronale Aktivität. Bei ihr werden nicht die aktiven Nervenzellen selbst, sondern vielmehr die Durchblutung einzelner Hirnareale sichtbar gemacht. Die Messungen haben auch daher geringere räumliche Auflösung. Ein weiterer Nachteil der bildgebenden Verfahren ist, dass sie zwar die aktiven Hirnbereiche aufzeigen, aber keine Aussagen über die Funktionen der Signalübertragung im Gehirn liefern. So kann man zwar feststellen, welche bestimmten Hirnteile etwa beim Denken aktiv sind - man erhält aber keine Information darüber, was das neuronale Netzwerk wirklich leisten muss. Eine unserer tierexperimentellen Arbeiten an Rhesusaffen zeigt, dass die üblich gewordene schlichte Gleichsetzung von fMRT-Signal und Nervenzellaktivität zu schwerwiegenden Fehlinterpretationen führen kann (Logothetis, N. K.: What we can do and what we cannot do with fMRI. Nature 453(7197), 869-878 (06 2008). DOI:10.1038/nature06976).

Beide oben genannten Methoden können auch kombiniert eingesetzt werden. Unsere Abteilung „Physiologie kognitiver Prozesse“ ist derzeit weltweit führend bei der Entwicklung von Techniken, die funktionelle Magnetresonanztomographie und elektrophysiologische Ableitungen gleichzeitig einsetzen. Die Kopplung von bildgebenden Verfahren mit invasiven Studien ermöglicht es, verlässliche Erkenntnisse über die Arbeitsweise des Gehirns zu erhalten und die bildgebenden Verfahren für die klinische Diagnostik zu verbessern.